Tolstoi auf Deutsch, Goethe auf Russisch
Fast 16.000 Titel stellt die Gemeindebibliothek der Synagogen-Gemeinde Köln ihren Nutzer*innen heute zur Verfügung. Ein großer Teil der Werke ist russischsprachig, die übrigen Bücher sind überwiegend auf Deutsch verfasst, aber auch auf Englisch oder Hebräisch. Allein schon der sprachliche Schwerpunkt erzählt ein Stück jüdischer Geschichte in Deutschland. Er ist dem Entstehungskontext der Bibliothek geschuldet, die heute den Namen ihres Gründers Isaak Olschanski trägt. Er und seine Mitstreiter legten den Grundstein für die Bibliothek in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts.
mit freundlicher Genehmigung von Constanze Baumgart @ Germania Judaica
Es waren Jahre, in denen die jüdischen Gemeinden in Deutschland ihr Gesicht fundamental veränderten: Nach dem Epochenumbruch 1989/1990 verließen rund 200.000 russischsprachige Juden die ehemalige Sowjetunion, um nach Deutschland zu emigrieren. Die deutschen jüdischen Gemeinden unternahmen große Anstrengungen, um die Ankommenden zu unterstützen. Allein in Köln begrüßten rund 1.000 alteingesessene Gemeindemitglieder 4.000 jüdische Zuwanderer aus allen Ecken der ehemaligen Sowjetunion.
Ein Ehepaar gründet eine Bibliothek
Was die Neuankömmlinge vielfach besonders auszeichnete, war eine große Kulturtiefe: Ihre hohe Bildung brachte ihnen bald die Bezeichnung „Kulturjuden“ ein. Zu ihnen zählten auch der Ingenieur Isaak Olschanski und seine Frau, Professorin Greta Ionkis (zuletzt erschien von Greta Ionkis „Juden und Deutsche“ – eine Essaysammlung). Sie kamen 1994 nach Köln und in die Synagogen-Gemeinde Köln. Olschanski wollte der Gemeinde etwa von dem zurückgeben, was diese für ihn und seine Frau getan hatte. Für den Bücherliebhaber und Ehemann einer Literaturwissenschaftlerin lag die Antwort nahe: eine Bibliothek für die Gemeindemitglieder – die es damals noch nicht gab.
Isaak Olschanski am Schreibtisch in der Bibliothek (©privat)
Isaak Olschanski wollte für die russischsprachigen Gemeindemitgliedern einen sozialen Ort schaffen, einen Ort der Begegnung, an dem sie Bücher in ihrer Muttersprache ebenso wie Gleichgesinnte finden würden. Einen Schwerpunkt bildet daher in der Gemeindebibliothek der Synagogen-Gemeinde Köln russischsprachige Belletristik – von den großen Klassikern der russischen Literatur bis hin zu modernen Werken, leichter Lektüre und Kinderbüchern. Olschanski und seiner Frau lag es aber auch am Herzen, die Leser*innen mit der deutschen Literatur vertraut zu machen. Davon zeugt ein reicher Bestand von Literaturübersetzungen ins Russische. Doch auch der umgekehrte Weg wurde beschritten. Was schon Olschanski und Ionkis wichtig war, ist auch der heutigen – hauptamtlichen – Bibliothekarin Isabella Khoussid ein Anliegen: „Ich möchte den deutschsprachigen Gemeindemitgliedern die russische Literatur nahebringen.“ Zahlreiche russische Klassiker sind hier in deutscher Übersetzung zugänglich.
Judaica: Die eigenen Wurzeln kennen
In der ehemaligen Sowjetunion hatten Juden in aller Regel ohne engen Bezug zu ihrer Religion gelebt. Die im Ausweis eingetragene Bezeichnung „Jude“ galt als Nationalität; Antisemitismus – mal offen, mal verdeckt – war an der Tagesordnung. Die neuen Gemeindemitglieder brachten daher zwar in der Regel ein jüdisches Bewusstsein mit, jedoch wenig Wissen über ihre eigene Religion, über Traditionen und die Geschichte des Judentums. Dem trägt eine eigene kleine Abteilung mit Judaica Rechnung – mit Werken zur jüdischen Religion und Tradition. Hinzu kommen historische Arbeiten zur Geschichte des jüdischen Volkes, Israels und des Holocausts. Spezialthemen wie jüdisches Leben in der Diaspora und jüdische Mystik, eine umfangreiche Sammlung von Erinnerungsliteratur – Memoiren, Autobiografien und Biografien –, philosophische und weitere geisteswissenschaftliche Werke sowie verschiedene Lexika runden den Bestand ab.
Krimis gegen Corona
Die Bibliothek reagierte auch auf die Hochzeit der COVID19-Pandemie. Isabella Khoussid organisierte einen Ausleihservice: Nach telefonischer Vorbestellung wurden die ausgewählten Bücher zur Abholung am Eingang des Gemeindezentrums bereitgelegt. Und es zeigte sich, dass Corona seine Spuren auch in den Lesebedürfnissen hinterließ, berichtet die Bibliotheksleiterin. Die Frage „Bitte, haben Sie etwas Leichtes?“ hörte sie in diesen Monaten immer wieder.
Wir sind keine Bücherausleihe, wir sind ein Informationszentrum und ein Ort der Begegnung.
Isabella Khoussid, Leiterin der Isaac-Olschanski-Bibliothek
Was als Mikroprojekt, basierend vor allem auf Spenden, begann, ist heute eine funktionierende, professionell aufgestellte Bibliothek mit einem kleinen, aber festen Budget im Gemeindehaushalt und einer hauptamtlichen Leiterin. Greta Ionkis begleitet ehrenamtlich die Arbeit der Bibliothek bis heute. Und der Bestand wächst kontinuierlich weiter: Monatlich schaffen Isabella Khoussid und ihre ehrenamtlichen Mitstreiter 20 bis 30 neue Bücher an.
Für seine ehrenamtliche Arbeit erhielt Isaac Olschanski 2017 das Bundesverdienstkreuz. Seit 2020 trägt „seine“ Bibliothek den Namen Isaak-Olschanski-Bibliothek.
Dr. Constanze Baumgart ist Journalistin und Redakteurin dieses Blogs: Von Büchern und ihren Orten – jüdische Bibliotheken weltweit