לֹא בְחַיִל וְלֹא בְכֹחַ כִּי אִם בְּרוּחִי אָמַר יְהוָה צְבָאוֹת
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Gedenkveranstaltung: Erinnern für die Wachsamkeit

Beginn: Mo, 09. November 2020, 17:00
Ende: Mo, 09. November 2020, 20:00
Anmeldung:
Ort: Synagogen-Gemeinde Köln
Roonstraße 50, 50674 Köln
Website: https://sgk.de

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten die Synagogen, Juden wurden überfallen, misshandelt, in Konzentrationslager verschleppt und ermordet, jüdische Geschäfte und Wohnhäuser wurden überfallen, geplündert und demoliert, nicht wenige nahmen sich aus Verzweiflung das Leben,

75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz

Die Synagogen-Gemeinde Köln und die Kölnische Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit laden ein zur Gedenkveranstaltung zum 82. Jahrestag der Reichspogromnacht vom 9. November 1938.

Liebe Freunde,

heute gedenken wir auf eine andere Art, aber aus vollem Herzen.
Wir bedanken uns sehr bei allen, die dazu beigetragen haben, vor allem bei den jungen Menschen.

Auf Grund der aktuellen Situation wurde das Programm verändert.

Der Vorstand
Ihre Synagogen-Gemeinde Köln 🍷✡️🕍


Im Programm:

Gebete:
– Gemeindekantor Mordechai Tauber

Ansprachen:

Rede von Vorstandsmitglied Bettina Levy

Sehr verehrte Frau Bürgermeisterin Reker,
sehr geehrter Herr Professor Wilhelm,
Lieber Herr Freiwald,
Herr Kantor Tauber,
sehr verehrte Vorstandsmitglieder der Synagogen-Gemeinde Köln Herr Lehrer, Herr Dr. Rado und Herr Dr. Schotland,
sehr verehrte Zuschauer des Livestreams,
und nun auch liebe Leser,

 

das diesjährige Gedenken zum 9. November an die Pogromnacht 1938 und die Shoah geschieht, wie fast unser ganzes momentanes Dasein, im Schatten der Covid-19-Pandemie.

Unser alltägliches Leben, das Miteinander, Arbeiten und die Schulen sind von den Möglichkeiten und der Herausforderung des Umgangs mit Corona, dem Schutz anderer und der eigenen Gesundheit, bestimmt.

Unsicherheit, Besorgnis und Angst haben eine andere Dimension und sind für viele Menschen allgegenwärtig.

Der Umgang damit ist jedoch extrem verschieden.

So gibt es Menschen, die anderen, denen es noch schlechter geht, behilflich sind, die sich bemühen zu unterstützen, oder einfach nur einmal mehr ‚Danke!‘ sagen.

Wir können in jedem Moment unseres Lebens entscheiden, wer wir sein wollen. Wir haben eine Stimme und es gibt immer Möglichkeiten.

Die SchülerInnen, die unsere Veranstaltung mit-, nein, hauptsächlich gestaltet haben, sie haben Stellung bezogen gegen das Vergessen, für das Erinnern. Diese SchülerInnen haben für sich entschieden, wer sie sein möchten.

Wir sind nicht für die Vergangenheit verantwortlich. Wir halten aber die Zukunft in unseren Händen. Wir können mit dem, was wir tun, mit dem, was wir unterstützen, mit dem, was wir verhindern, einen Unterschied machen. Jeder Einzelne!

Ihr jungen Menschen, die Ihr zum Gedenken an den 9. November 1938 beigetragen habt, etwas erarbeitet und vorgestellt habt, erinnert an die Menschen, die ausgelöscht wurden. Dafür danken wir, die jüdischen ganz normalen Menschen dieser Stadt, euch sehr.

Wir haben die Menschen, deren Schicksal, deren nicht gelebtes Leben ihr beschreibt, in unserem kollektiven Herzen, im Herzen des jüdischen Volkes. Ihr macht sie für alle wieder sichtbar und gebt ihnen ihre Namen zurück, indem Ihr sie aussprecht. Danke!

Ihr erinnert aber auch gleichzeitig unsere Gesellschaft an die schrecklichen Folgen, wenn man einer menschenverachtenden Ideologie hinterher läuft. Juden und Jüdinnen wurden ausgegrenzt, verfolgt, ermordet.

Die Theorien ihrer Vergehen und somit die Rechtfertigung dieser Gräueltaten lagen oft in Verschwörungstheorien. Die jüdische Weltherrschaft ist ein immer wieder gerne heraufbeschworenes angebliches Schreckgespenst. Und des gleichen Musters wird sich auch heute mehr und mehr, öffentlich und offen bedient. Verschwörungstheorien haben während Corona Hochkonjunktur. Wir leben in einer Zeit der Distanz und des Abstandes. Aber im digitalen Raum passiert ganz viel. Verschwörungstheorien, werden in Windeseile verbreitet und haben eine gigantische Plattform. Wir müssen noch wachsamer sein, auch in dieser Parallelwelt des Internets, die für viele mehr Zuhause als die echte Welt, die Realität geworden ist. Seid wachsam!

Wir konnten die Dimension dessen in Anschlägen wie in Halle sehen. Der Täter hat vorher seine Ansichten und unfassbaren Absichten verkündet. Er war ausgestattet, um andere live und online an seiner Bluttat teilhaben zu lassen. Rechtsradikale, antisemitische und rassistische Äußerungen sind auch im Netz strafbar.

 

Liebe Frau Reker,

der Satz ‚Kein Millimeter nach rechts‘ ist für die jüdische Bevölkerung in Köln mehr als ein Wahlversprechen. Wir glauben Ihnen diese Worte. Wir trauen sie Ihnen in der Umsetzung auch zu. In unserer Stadt darf kein Platz und kein Ort für Antisemitismus und Rassismus sein. Unsere gemeinsamen Zeichen, wie kürzlich die Bahn ‚Miteinander – mittendrin‘ , deren Idee Sie von Anfang an unterstützt haben, gibt uns das Gefühl Sie stehen an unserer Seite. An der Seite der Demokratie und unserer gemeinsamen Werte. Dafür danken wir Ihnen und schätzen Sie sehr.

Die unermüdliche Arbeit des EL-DE-Hauses und der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, stellvertretend möchte ich Herrn Professor Wilhelm und Herrn Dr. Jung nennen, setzen sich seit Jahrzehnten durch Bildungsangebote für Demokratie, gegen

Antisemitismus ein. Das ist von großer Bedeutung für die Kölner und Kölnerinnen. Sie verändern, sie geben damit die Möglichkeit sich anders zu entscheiden. Danke dafür!

Gedenken,
Gedenken durch Erinnern.
Auch, aber nicht nur…
Gedenken, um zu verhindern.

Daher lassen Sie uns auch dieses Jahr wieder einen Namen mitnehmen.

Uns zur Mahnung, ihnen zum Andenken. Nehmen Sie einen dieser Namen mit in Ihre Welt, in Ihr Leben. Denken Sie an dieses Kind, diesen Menschen, seinen Namen, wenn Sie entscheiden müssen, was richtig und was falsch ist. Und wofür Sie einstehen, wogegen Sie einschreiten, nicht weghören und vielleicht auch handeln müssen. Das waren die Worte, mit denen Herr Dr. Felix Schotland und ich im letzten Jahr unsere Rede zum 9.November beendeten. So möchte ich es auch dieses Jahr machen.

Elisabeth Faibusch 4 Jahre alt, ermordet
Bernhard Baruch 3 Jahre, ermordet
Edgar Blum 3 Jahre, ermordet
Wolfgang Blum 2 Jahre, ermordet
Chana Baruch 6 Monate, ermordet
Gertrud Levi 1938 ist sie 49 Jahre alt, ermordet
Johanna Levy 1938 ist sie 49 Jahre alt, ermordet
Alfred Theodor Salmony 1938 ist er 53 Jahre alt, ermordet
Emma Landau 1938 ist sie 66 Jahre alt, ermordet
Calman Rosenthal 1938 ist er 73 Jahre alt, ermordet
Rede von Oberbürgermeisterin Reker

Rede von Oberbürgermeisterin Reker anl. der Gedenkfeier der Synagogen-Gemeinde Köln zur Pogromnacht am 9. November 2020

Sehr geehrte Frau Levy,
sehr geehrte Herren Lehrer, Dr. Schotland und Dr. Rado,
sehr geehrter Herr Kantor Tauber,
sehr geehrte Frau Farkas,
sehr geehrter Herr Prof. Dr. Wilhelm,
liebe Anwesende hier vor Ort sowie im Live-Stream!

 

Wir erinnern uns heute an den 9. November 1938 – ein Datum, das sich in die deutsche Geschichte eingebrannt hat. Ich nehme diesen Tag auch durch die Augen einer damals jungen Frau wahr. Erst vor wenigen Jahren – bereits hochbetagt – konnte sie mir von den Ereignissen erzählen.

Am 9. November 1938 war ihr 18. Geburtstag. Bei Einbruch der Dunkelheit begegneten ihr auf dem Heimweg überall in der Stadt Horden meist junger Männer. Sie erkannte die Uniformen der Hitler-Jugend. Sie sah eine Gruppe, die mit tropfenden Farbeimern in der Hand die Schaufenster beschmierte. Sie hörte lautstarke Aufrufe zur Gewalt an Jüdinnen und Juden. Sie ahnte mehr als sie wusste und lief nachhause. Ihre Mutter registrierte die Nachricht nur; ihr Vater vergrub sein Gesicht schwer besorgt in der Hand. Alle drei schwiegen zu den Geschehnissen – aus Angst und Sorge um sich selbst.

Die junge Frau war meine Mutter und sie wäre also heute 100 Jahre alt geworden. Ihr – wie auch den Letzten – musste nach dieser Nacht klar geworden sein, wie sehr jüdisches Leben in Deutschland und hier in Köln in Gefahr war.

In dieser Nacht brannten unzählige Synagogen in Deutschland und auch die Kölner Synagoge in der Roonstraße! Wie überall in Deutschland Jüdinnen und Juden angegriffen oder sogar ermordet wurden, so war dies auch in unserer Stadt der Fall. Es war eine Nacht des Verlustes – eine Nacht der Angst, des Schreckens – eine Nacht des Staatsterrors inmitten eines Kontinents, der den Humanismus und die Aufklärung hervorgebracht hatte.

Meine Damen und Herren, ich wünschte, wir könnten sagen, unsere Gesellschaft habe aus der Geschichte ein für alle Mal gelernt. Ich wünschte wir könnten heute sagen: Der Antisemitismus in Deutschland und in Köln ist überwunden. Doch die Gegenwart lehrt uns, dass dies nicht der Fall ist. Judenfeindschaft ist immer noch weit verbreitet – das wissen wir aus der Arbeit unseres NS-Dokumentationszentrums leider allzu gut.

Um es unmissverständlich zu sagen: Als Oberbürgermeisterin habe ich den Anspruch, dass Jüdinnen und Juden 82 Jahre nach dem Novemberpogrom endlich angstfrei in Köln leben können.

Doch solange Antisemitismus besteht, ist ein wirksamer Schutz von Jüdinnen und Juden unverzichtbar und unverhandelbar. Und solange Antisemitismus besteht, sind wir aufgerufen, uns ihm entgegenzustellen!

Denn wir sind nicht machtlos: Indem wir Zivilcourage zu unserem wichtigsten Alltagsbegleiter machen, verteidigen wir die Menschenwürde. Indem wir Gewalt, Hass und Hetze Mitmenschlichkeit und Respekt entgegensetzen, entziehen wir rechten Ideologien ihre Grundlage. Indem wir uns der Geschichte erinnern, bleiben wir wachsam für die Gegenwart – ganz so wie es Ihr Leitmotiv vorgibt.

Meine klare Haltung auch in meiner zweiten Amtszeit bleibt: Mit mir rückt Köln keinen Millimeter nach rechts! Ich stehe für das Verbindende, nicht für das Trennende. Ich stehe für Dialog und Kompromiss statt für Radikalität. Und deshalb, meine Damen und Herren, habe ich die Initiative des Zentralrats der Muslime in Deutschland sehr begrüßt, mit einem interreligiösen Friedensgebet in Berlin gegen den offenbar islamistischen Terror von Wien ein Zeichen zu setzen.

Es ist dieser Geist der religionsübergreifenden Gemeinsamkeit, den wir in diesen Zeiten besonders dringend brauchen. Denn die Pandemie und der Umgang mit ihr legen erneut gesellschaftliche Gräben offen.

Die derzeitige Krise birgt – je nach weiterem Verlauf – das Potential zur Spaltung – auch das wissen wir aus ähnlichen Ereignissen in der Geschichte allzu gut.

Nicht zuletzt deshalb heißt es heute richtiger Weise: Erinnern für die Wachsamkeit!

Es muss jetzt mehr denn je darum gehen, trotz und gerade wegen der Kontaktbeschränkungen im Dialog zu bleiben. Mit einer klaren Haltung. Mit Solidarität und mit großer Gemeinsamkeit. So wie jede Demokratin und jeder Demokrat aufgerufen ist, sich im Kleinen für die Stadtgesellschaft zu engagieren, so sehe ich auch meine Stadtverwaltung in der Verantwortung, Hass, Hetze und Gewalt Einhalt zu gebieten. Und wir nehmen sie ernst:

Am NS-Dokumentationszentrum gibt es beispielsweise seit gut einem Jahr die Fachstelle [m²] miteinander mittendrin – Für Demokratie – Gegen Antisemitismus und Rassismus. Ich freue mich, dass hierbei auf so viele engagierte Mitarbeitende und ehrenamtliche Unterstützung setzen zu können, insbesondere auch der Synagogen-Gemeinde.

Mitte August war die Stadt Köln zudem Initiatorin der Aktion „Glanz statt Hetze“, an der sich Hunderte Kölnerinnen und Kölner, viele Institutionen und Vereine beteiligten – dabei bleibt mir besonders die Rede Ihres Sohnes, liebe Frau Levy, an einem der gereinigten Stolpersteine in Erinnerung.

Meine Damen und Herren, es gibt viele kreative Beispiele für das breite Engagement gegen Antisemitismus bei uns in Köln und das sollte uns allen Mut machen.

Und neben dem Mut finde ich heute in einem weiteren Gedanken Trost: Die Nacht des Pogroms sollte nach dem Willen der Nationalsozialisten zum Auftakt für die industrielle Vernichtung des Judentums werden. Doch es ist nicht gelungen, das jüdische Leben auszulöschen – nicht in Europa, nicht in Deutschland, nicht bei uns in Köln. Die überlebenden Jüdinnen und Juden waren stärker als die perfide Grausamkeit der Nazis.

Und daher sage ich heute: Ich bin dankbar dafür, dass wir heute vereint und geschlossen der Jüdinnen und Juden erinnern, die in dieser Nacht vor 82 Jahren von Deutschen getötet wurden, die angegriffen wurden und spätestens seit dieser Nacht um ihr Leben fürchten mussten. Und ich bin glücklich, dass jüdisches Leben wieder ein Teil unserer Stadt ist – so wie es für Jahrhunderte der Fall gewesen ist.

Das sichtbar zu machen, bleibt unsere gemeinsame Aufgabe! Die Schalömchen-Köln-Bahn fährt bereits seit Oktober durch Köln und erreicht viele Tausend Kölnerinnen und Kölner. Auch die Kölner Synagoge wird noch einmal sichtbar an Attraktivität gewinnen – ich freue mich über die Förderung des Bundes, mit der die Wiederherstellung der ursprünglichen Schönheit möglich wird.

Und in wenigen Wochen läuten wir schließlich das Festjahr 1.700 Jahre jüdisches Leben in Köln und Deutschland ein. Ich hoffe sehr, dass 2021 als das Jahr in die Kölner Stadtgeschichte eingeht, in dem das mittelalterliche jüdische Viertel im Herzen unserer Altstadt – so wie der Kölner Dom – Unesco-Welterbe-Status erhält.

Liebe Anwesenden, meine Mutter und ihre Eltern schwiegen zu den Ereignissen des 9. November 1938. Sie schwiegen als ihre jüdischen Nachbarn flohen oder deportiert wurden. Und sie schwiegen zum Holocaust. Bis ins hohe Alter begleitete meine Mutter eine tiefe Scham, ein erdrückendes Schuldgefühl und eine Fassungslosigkeit über sich selbst, damals aus Angst unmenschliche Greuel mitermöglicht zu haben. Erst kurz vor ihrem Lebensende fasste sie all dies in Worte. Meine Mutter steht für Millionen Deutsche im Nationalsozialismus, die zur Auslöschung jüdischen Lebens schwiegen. Als ihr Kind habe ich heute einen tiefen Wunsch: Dass es uns gemeinsam gelingen möge, im kommenden Jahr ein weithin hörbare Signal auszusenden, das heute vor 82 Jahren ausgeblieben war, eine Botschaft, die heute so wichtig ist, wie sie damals war und in Zukunft sein wird: Jüdinnen und Juden gehören seit jeher zu Köln – und dabei bleibt es!

Rede von Prof. Dr. Jürgen Wilhelm

Rede von Prof. Dr. Jürgen Wilhelm anlässlich des Gedenkens an die Pogromnacht 1938 am 9.11.2020, Synagoge Roonstraße, Köln. Es gilt das gesprochene Wort.

 Auch unter wenig erfreulichen Umständen führen wir unsere traditionelle Gedenkveranstaltung zum 9. November 1938 durch, um die Schrecknisse dieses furchtbaren, gleichwohl historischen Tages nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Gleichzeitig wollen wir über seine Bedeutung für unsere Gegenwart nachdenken.

Doch sind wir vor allem gemeinsam hier, um der Opfer zu gedenken, der vielen Toten, Verletzten und Traumatisierten, die durch die von der Polizei nicht gestörten Brandschatzungen und Zerstörungen endgültig gespürt haben, dass sie in diesem Staat der Willkür und des Naziterrors auf das Höchste gefährdet waren.

Häufig spricht man von einem „Ereignis“, als wäre alles irgendwie vom Himmel gefallen. Der November 1938 ereignete sich aber nicht auf irgendeine ominöse Art und Weise, es handelte sich um kein zufälliges Geschehen, keinen Unfall, keine Naturkatastrophe, die plötzlich und unerwartet hereinbrach. Diese zerstörerische sog. Reichskristallnacht hatte einen langen historischen Vorlauf, mit Traditionslinien, die Antisemitismus und Rassismus entfachten und einen komfortablen Ausgangspunkt für die Nazis, ihre Schergen, aber auch für die zuschauende Mehrheit aller Deutschen darstellte.

Wenn eines aus der deutschen Geschichte gelernt werden kann, dann, dass in der Wilhelminischen Epoche und – wenn auch durch die Macht der kurzen brüchigen Demokratie gezähmt – in der Weimarer Republik ein aggressiver Antisemitismus en vogue war, der in erster Linie von den politischen Eliten und dem Bürgertum befeuert wurde. Antisemitismus kam und kommt nicht nur von den gesellschaftlichen Rändern, sondern hat historisch und in der Gegenwart in der Mitte der Gesellschaft und in elitären Milieus sein Epizentrum.

Ohne die Vorarbeit nationalistischer und reaktionärer Kräfte, die maßgebliche gesellschaftliche Strukturen in der Weimarer Republik prägten, wäre es den Nazis nicht möglich gewesen, die Macht 1933 zu übernehmen. Wir wissen heute, dass sowohl der immer noch auf tausenden Denkmälern und Straßennamen verewigte Hindenburg, einer der dümmsten und korruptesten Staatsmänner, unter denen Deutschland je gelitten hat, ebenso wie die militärische Elite und der Adel, an der Spitze die Hohenzollern, die Nazis erst an die Macht gebracht haben. Hitler und seine Partei haben diese Macht ergriffen, die man ihnen willig hergab.

Nun befinden wir uns heute nicht in der Endphase der Weimarer Republik, in der sich weite Teile der Gesellschaft ein Ende von Demokratie und Pluralismus wünschten. Jedoch müssen wir seit längerem von einer latenten Bedrohungssituation für Juden in Deutschland und in vielen europäischen Staaten sprechen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die Angriffe auf Juden exponentiell zunehmen.

Hinzu kommt aktuell der terroristische Islamismus.

Beim Islamismus handelt es sich um eine im Kern rechtsextreme Ideologie. Mit anderen rechtsextremen Bewegungen hat der Islamismus sowohl seinen Antisemitismus und Antimodernismus als auch den Hass auf sexuelle Minderheiten und die Diskriminierung von Frauen gemeinsam. Er verachtet die Freiheit und die Selbstbestimmung des Einzelnen und ordnet sie dem Kollektiv unter, das Abweichler nicht duldet, sie ausgrenzt, bedroht, verfolgt und schlimmstenfalls ermordet. Er ist autoritär und systemkonsequent verbrecherisch und terroristisch. Seine Angriffe zielen auf die pluralistische und demokratische Gesellschaft, mit deren liberalen Grundsätzen er nicht vereinbar ist und die von den Islamisten weder anerkannt noch respektiert werden.

Wer sich für eine offene, demokratische Gesellschaft einsetzt und sich in diesem Sinne gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus engagiert, muss auch den Islamismus als große Gefahr für Demokratie und Pluralismus begreifen, über den aufgeklärt und dem entgegengewirkt werden muss. Wir sagen das seit vielen Jahren immer wieder öffentlich, auch in der Synagoge an fast jedem 9. November. Die vielen Schlupflöcher, die der liberale Rechtsstaat den Islamisten lässt wird von diesen systematisch ausgenutzt und gefährdet und zerstört immer wieder das Leben unschuldiger Bürger. Die Institutionen des Staates müssen alle rechtlichen Möglichkeiten zur Überwachung und Verfolgung nutzen.

Gesetze und Vorschriften hierfür gibt es genug: woran wir leiden, ist kein Gesetzesdefizit! Woran wir leiden, ist ein Umsetzungsdefizit!

Aber denken wir nicht nur an irgendjemand, irgendwo, in irgendeiner anderen Stadt. Es sind nicht immer die anderen, bei denen Derartiges geschieht. Das wäre zu einfach! Denken wir  an unseren Rabbiner in Köln, der die Straßenbahnfahrt vermeidet, weil er Beleidigungen und Schmähungen aus dem Weg gehen möchte. Denken wir an die Keupstraße.

In Hamburg wurde kürzlich ein jüdischer Student mit Kippa vor der dortigen Synagoge angegriffen und schwer verletzt; der antisemitische Übergriff vor wenigen Wochen in dem Burschenschaftshaus Normannia machte Schlagzeilen.

Letzterer wurde allerdings nur öffentlich, weil engagierte Antifas in Heidelberg hierzu recherchierten. Die Polizei hatte dies in ihrer Presseberichterstattung einfach mal „vergessen“. Die Normannia ist organisiert im Verband der Deutschen Burschenschaft (DB), der immer wieder durch zahlreiche Verbindungen zur extremen Rechten auffällt.

Deshalb spreche ich von bürgerlicher Mitte. Hier sind sie wieder, sogar im alten Outfit und mit ihren lächerlichen Traditionen, gleichwohl gefährlich. Offenbar sind rechte Vereinigungen, Neonazis, Burschenschaften und viele andere nur wenig getarnte Organisationen des rassistischen und antisemitischen Spektrums stark vernetzt, arbeiten häufig jahrelang zusammen bis hin zur Radikalisierung und eben immer wieder auch mörderischen Angriffen, deren Vorbereitung die Sicherheitsbehörden nicht durchschauen.

Es ist keineswegs so, um noch einmal auf den historischen Vergleich zu Beginn meiner Rede zurückzukommen, dass wir es gegenwärtig wie in der Endphase der Weimarer Republik mit einem strukturell reaktionären Bürgertum in Deutschland zu tun haben. Nein: Die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt heute Rechtsstaat und Demokratie. Aber sie stehen dem grassierenden Antisemitismus und Rassismus häufig desinteressiert und teilnahmslos gegenüber.

Noch immer reagieren die Behörden viel zu zögerlich. Kritisch muss festgestellt werden, dass nach dem NSU-Skandal, nach der Keupstraße nicht die notwendigen Konsequenzen für einen nachhaltigen Kampf gegen militanten Rechtsextremismus gezogen wurden, wie die zahlreichen antisemitischen und rassistischen Vorfälle innerhalb des Polizeiapparats, des Militärs und der Geheimdienste belegen.

Keine historische Feststellung, sondern eine aus der vorigen Woche: der Innenminister von NRW informierte darüber, dass mittlerweile gegen 150 Sicherheitskräfte ermittelt werde.

Erschwerend kommt noch hinzu, dass wir schon seit einigen Jahren mit einem politischen Arm des Rechtsextremismus in sehr vielen Parlamenten in Deutschland zu tun haben, deren Abgeordnete gegen Minderheiten hetzen, den Nationalsozialismus verharmlosen und ganz offen antisemitisch oder rassistisch argumentieren. Viele in dieser Partei haben dabei auch kein Problem mit Gewalt und Vernichtungsphantasien. So sagte vor wenigen Monaten der damalige AfD-Pressesprecher Lüth in einem vermeintlich vertraulichen Gespräch: „Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD.“ Das sei mit Fraktionschef Gauland „lange besprochen“ worden. Auf den Zuzug von Migranten angesprochen, sagt der Funktionär: „Wir können die nachher immer noch alle erschießen, das ist überhaupt kein Thema, oder vergasen oder wie du willst, mir egal.“ Wörtliches Zitat!

Schlimmer geht es nicht mehr. Und immer wieder wiegelt die AfD ab. Den sog. „Flügel“ will sie verboten haben. Beobachtungen des hessischen Verfassungsschutzes sagen das Gegenteil. Die sog. Auflösung der Kampftruppen von Höcke und Co. war eine Finte, um der Beobachtung durch den Verfassungsschutz auszuweichen. Der Neonazi-Flügel dominiert viele Landesverbände der AfD, auch in NRW.

An diesem Erinnerungstag hätte ich Ihnen gerne freundlichere Nachrichten beschert, aber die Welt um uns herum ist leider nicht so. Man muss nicht Kassandra sein, um festzustellen, dass trotz des Wahlsieges von Biden in den USA es selbst in der EU Staaten gibt, die systematisch Demokratie und Rechtsstaat schwächen. In Polen, Ungarn und anderen Staaten schwingen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus stets mit. Mal leiser, mal lauter.

Also gilt es weiterhin und verstärkt wachsam zu sein und die Stimme zu erheben, aktiv einzutreten gegen offenbar nicht auszurottenden gefährlichen und menschenverachtenden Antisemitismus und Rassismus.

Lassen Sie mich den Frauen und Männern der Synagogengemeinde Köln versichern, dass wir als Institution, aber auch sehr persönlich unüberhörbar an Ihrer Seiter stehen und gemeinsam mit Ihnen für eine Gesellschaft ohne Antisemitismus kämpfen.

 

Schülerbeiträge:
– Dreikönigsgymnasium Köln – Schülerinnen und Schüler katholische Religion der Q2
– Kaiserin-Augusta-Schule, Gymnasium – Schülerinnen und Schüler des Projektkurses Tel-Aviv und Israel, Q1
– Jüdische Religionsschule der Synagogen-Gemeinde Köln – Klasse 9

Musikalische Beiträge:
– Samuel Meller, Piano

Unser besonderer Dank geht an:

– Schüler*innen des Dreikönigsgymnasiums, katholische Religion Q2: Alexandros, Letizia (Poetryverfasserin), Paul, Kaspar mit Religionslehrer Frank Dreyer
Schüler*innen der Kaiserin-Augusta-Schule, Projektkurs Israel Q1: Zerah, Shio, Lynn, Charlotte, Antonia, Frederike, Gregor, Giorgia, Johannes mit Kursleiterin Nicole Schweiß und Kursleiter Florian Selle
Schüler*innen der jüdischen Religionsschule der Synagogen-Gemeinde Köln, Klasse: Yaniv, Melissa, Ninel, Jonathan, Gabriel, Naomi, Mia, Yael, Mia mit Religionslehrerin Shira Rademacher
Elena Dubinska, für die musikalische Begleitung mit dem Stück von Ilse Weber „Und der Regen rinnt“ sowie der Eigenkomposition „Erinnerung“
Roman Kover vom Roman Kover Verlag
für die Freigabe zur Nutzung der Bilder von Israel Bernbaum aus
„ICH BIN MEINES BRUDERS HÜTER – der Holocaust mit den Augen eines Malers gesehen« von Israel Bernbaum
– Ibrahim Basalamah, NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
– Aaron Knappstein, NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
– Christoph Bachmann, Archivdirektor Staatsarchiv München
– Silvia Stenger, Institut für Stadtgeschichte der Stadt Frankfurt am Main, Nachlässe und Personenarchiv
– Wolfgang Bittner, für die Erlaubnis sein Gedicht „Kollektivschuld“ im Rahmen unserer Gedenkveranstaltung nutzen zu dürfen
– Franz Mon, für die Erlaubnis sein Gedicht „man muß was tun“ im Rahmen unserer Gedenkveranstaltung nutzen zu dürfen
– Konstantin Wecker, für die Erlaubnis sein Gedicht „Sage nein!“ im Rahmen unserer Gedenkveranstaltung nutzen zu dürfen

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Kamera und Schnitt: Marius von Bock
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In Zusammenarbeit mit:

YouTube-Kanal der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit

 


Bild1: zerstörte Synagoge Köln nach nach Kriegsende 1945

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